STRATEGIE | SICHERHEITSPOLITIK
Der Bundesrat darf sich nicht um die strategische Sicherheitspolitik drücken
Stefan Wyer, 30. November 2022
Die Schweiz tut sich schwer mit Strategien. Sie ist eher das Land des Pragmatismus. Man macht, was von vorneherein als mehrheitsfähig gilt. Aber manchmal braucht es die grossen Strategien. An einem solchen Punkt sind wir in der Sicherheitspolitik jetzt angelangt. Lange Zeit war Verteidigungspolitik das Lösen konkreter Probleme wie den Ersatz veralteten Armeematerials, die Verkleinerung der Armee und Reduzierung der Verteidigungskosten.
Waren das innenpolitische Themen, so sind Parlament und Regierung heute wieder auf euro- und geostrategischer Ebene gefordert.
1. Die Situation erfordert strategisches Denken, was der Bundesrat noch vermissen lässt.
Die Sicherheit unseres Landes ist nicht mehr so selbstverständlich wie noch vor ein paar Monaten. Ein überwiegender Teil der existenziellen Ressourcen unseres Landes befinden sich ausserhalb unseres Territoriums. Wir spüren jetzt deutlich, dass die wirtschaftliche und gesellschaftliche Globalisierung jäh gestoppt wurde. Zuerst durch das Corona-Virus, wo immerhin noch globaler Konsens zu dessen Bekämpfung bestand. Und jetzt durch den Ukraine-Krieg, der auf brutale Weise die Gespaltenheit der Welt offenlegt. Als kleines, hochmodernes, und global vernetztes Land stehen wir für unsere Existenzsicherung vor so grossen Herausforderungen wie seit Beginn des Kalten Krieges nicht mehr.
Mit der längst fälligen Modernisierung unserer Armee ist es dabei nicht mehr getan. Es braucht eine Auslegeordnung aller unserer Handlungsoptionen und Instrumente. Alles spielt ineinander, beeinflusst unser Image und das Vertrauen, das man in uns als stabilen, verlässlichen Staat hat, die Voraussetzung für eine friedliche Existenz. Das angeschlagene Verhältnis mit der EU ist da wenig hilfreich, die Vermeidung der Neutralitätsdiskussion durch den Bundesrat erst recht nicht. Im Klein-Klein-Spiel der Diplomatie gehen die grossen Zusammenhänge unter.
In Europa ist der Eroberungskrieg Russlands gegen die Ukraine schon von Anfang an nicht nur eine bilaterale Angelegenheit zwischen den beiden Ländern. Der Westen ist nicht nur durch Waffenlieferungen und Sanktionen längst eingebunden, sondern auch durch die Verteidigung seiner Werte in der UNO, auf den grossen Wirtschaftstreffen wie G7 und G20 und anderswo. Es herrscht ein mehr oder weniger offener Krieg zwischen verschiedenen Systemen: Demokratie vs. Autokratie, freier Handel vs. staatengelenkte Planwirtschaft, die Respektierung des Völkerrechts vs. die Vernichtung von allem, was den eigenen Zielen im Weg steht. Dazu kommt der Kampf um die Gunst Chinas als Zünglein an der Waage zwischen Russland und dem Westen ist. Er ist in vollem Gang und läuft eher zuungunsten des Westens.
2. Neutralität ist nur sinnvoll, wenn sie auch aktiv angewendet wird
Die Neutralitätspolitik der Schweiz ist auf einem harten Prüfstand: Unsere bisherige Grundhaltung – maximale wirtschaftliche Kooperation mit dem Ausland, Vertretung humanitärer Werte, Raushalten aus Konflikten jeglicher Art – wird nicht mehr als so selbstverständlich akzeptiert. Dabei gilt: Neutralitätspolitik ist kein Selbstzweck, sondern ein Instrument zur Wahrung von Freiheit, Frieden und Sicherheit für unser Land. Neutralitätspolitische Massnahmen dürfen die Schweiz nicht zusätzlich gefährden; das Nicht-Mittragen von Sanktionen des Westens gegenüber Russland darf keinen Nachteil für uns bilden.
Wir sind wirtschaftlich und gesellschaftlich im Westen eingebunden. Im Kampf zwischen den autokratischen und den demokratischen Wertesystemen stehen wir eindeutig auf der Seite der Demokratie. Sie sind per se offene Gesellschaften, und die braucht es für offene Zugänge zu Märkten, was für die Schweiz von existenzieller Bedeutung ist. Funktionierende Wirtschaftsbeziehungen verhindern gegenseitige Vernichtung, das hat die Geschichte immer wieder gezeigt. Putins Verhalten bestätigt die Regel: Gerade weil Russland keine funktionierende Demokratie ist, kann der Machthaber so agieren, wie er es tut, und verliert dabei seine wirtschaftliche Zukunft.
Es ist also für uns essenziell, mitzuhelfen, dass die Kanäle offenbleiben. Das verlangt die Mitwirkung auf allen Plattformen, die den Dialog aufrechterhalten, sei es im UNO-Sicherheitsrat, sei es im Rahmen multilateraler Abkommen oder auf bilateraler Ebene als Vermittler.
Aussenminister Cassis hat dafür den Begriff «kooperative Neutralität» ins Spiel gebracht. Kooperation ist grundsätzlich eine Maxime unserer Politik, sowohl in der Innen- wie in der Aussenpolitik. Doch was das in der strategischen Sicherheitspolitik heisst, muss unbedingt vertieft werden. Leider hat der Bundesrat das nicht erkannt und hier voreilig den Stecker gezogen. Eine umfassende Auseinandersetzung mit der sicherheitspolitischen Gesamtstrategie ist auch notwendig, um die beabsichtigte Annäherung an die NATO richtig einordnen und planen zu können.
3. Die Schweiz muss die Gelegenheiten nutzen, um zur weltweiten Stabilisierung beizutragen
Vor diesem Hintergrund ist auch der Kernwaffenverbotsvertrag (TPNW) zu betrachten, zu dem das Parlament 2018 den Beitritt verlangte und der Bundesrat noch einen Bericht zu liefern hat. Einst wegen der schleppenden Fortschritte in der nuklearen Abrüstung entstanden ist er seit 2021 in Kraft. Die Schweiz ist bisher nicht beigetreten. Der Bundesrat spielt auf Verzögerung. Eine Unterzeichnung angesichts der atomaren Drohungen von Putin wäre schlecht für das Verhältnis mit der NATO, deren Atommächte auch unsere Sicherheit garantieren, so lautet eine oft gehörte Begründung. Und: Die Atommächte selbst sind dem Vertrag bisher ebenfalls nicht beigetreten, also sei die Wirkung des Abkommens in Frage gestellt.
Das mag wohl so sein, aber als Dialog-Plattform ist der Vertrag dennoch nicht zu unterschätzen. Zudem haben NATO-Partner wie Österreich, Irland, Malta oder Neuseeland den Vertrag bereits ratifiziert, ohne ihre Beziehung zum Bündnis zu strapazieren. Die entscheidende Frage ist: Kann die Schweiz über den Kernwaffenverbotsvertrag einen Beitrag zur Stabilisierung der Konfliktsituation – und damit zu ihrer eigenen Sicherheit – leisten? Und kann sie das glaubwürdig tun, wenn wie nur als Beobachter dabei ist? Den Vertrag zu unterzeichnen wäre ein deutliches Signal, dass wir als neutraler Staat dazu beitragen wollen, das Vertrauen zwischen den Staaten inklusive Atommächte wieder zu steigern. Dass Putin dieses Spiel nicht mit macht, darf uns nicht davon abhalten. Es wird eine Zeit nach ihm geben. Der Wiederaufbau des Vertrauens ist eine sehr langwierige Sache, sie muss frühzeitig und strategisch und damit langfristig angegangen werden.
Fazit
Von einer verbindlichen, überparteilich und überdepartemental mitgetragenen Strategie in der Sicherheitspolitik sind wir weit entfernt. Es stellt sich die Frage, ob Bundesrat und Parlament dazu aktuell überhaupt in der Lage sind. Zu viele ideologische Gräben durchlaufen die Politik und verhindern klare sicherheitsstrategische Entscheide, zu wenig ernst nimmt die Regierung ihre Führungsaufgabe. Nimmt man die Neutralitätspolitik weiterhin als Kompass der Aussen- und Sicherheitspolitik, so gehört die langfristige Ausgestaltung der Neutralitätspolitik, wie immer man sie auch nennen will, auf den Tisch, unter Berücksichtigung aller erdenklicher Plattformen, Mittel und Wege, die sich anbieten, um unsere Freiheit und unsere Sicherheit zu gewährleisten.
Wir brauchen eine sicherheitspolitische Strategie, die diesen Namen verdient!