ZUM NATIONALFEIERTAG 

Tell ist so aktuell wie selten! Aber anders, als manche denken 

Stefan Wyer, 1. August 2022 


Wir sind im Jahre Eins nach der oft zitierten «Zeitenwende». In Osteuropa kämpft ein Land um seine Existenz.  Würde man in der Tell-Geschichte die Habsburger durch Russen und die Eidgenossen durch Ukrainer ersetzen, wir kämen der dortigen Wirklichkeit wohl ziemlich nahe.

In Interlaken werden sie gerade wieder aufgeführt, die Tellspiele. Wie alle Jahre. Nur: Diesmal ist es etwas anders. Die Sage vom Tell und vom Rütlischwur ist vielleicht aktueller denn je. Denn wenn etwas an der Zeitenwende dran ist, dann dies: Es wird uns bewusst gemacht, dass nichts von dem, was wir heute haben, selbstverständlich ist. Auch die Genese der Eidgenossenschaft war alles andere als friedlich. Letztmals stand die Schweiz vor rund 200 Jahren im Krieg. Erst mit dem Wiener Kongress und dem Pariser Frieden 1815 entstand das Umfeld, dass es unserem Land erlaubte, sich zu dem zu entwickeln, was es heute ist.

Diese Zeit war geprägt von zurückhaltender Aussenpolitik, mit der Neutralität als einer der zentralen Maximen. Die brachte uns die innere Stabilität (vom Sonderbundskrieg einmal abgesehen), und damit die Voraussetzung für eine fruchtbare aussenwirtschaftliche Vernetzung, die letztlich unseren heutigen Wohlstand erst möglich machte. Und welche den Grundstein legte für die solidarischen Schweiz, mit der Gründung des Roten Kreuzes als historischem Leuchtturm. Alle drei Komponenten bedingen sich gegenseitig. Und alle drei Komponenten wurden seither mehr oder weniger geschickt eingesetzt, was uns weltweit eine beispiellose Entwicklung ermöglichte und hohe Anerkennung eintrug. 

Versuche, die Neutralität gegen die internationale Mitverantwortung auszuspielen, sind genauso falsch, wie die Versuche, die Neutralität aus falsch verstandenem «Gutmenschentum» zu kippen und wirtschaftlichen Erfolg per se als Akt der Unsolidarität zu verteufeln. Nur wer hat, kann auch geben. Wer aber hat, soll auch geben. Das ist eine Absage an politisch motivierte Maximalforderungen von links und rechts.
 

Wir haben nicht viel andere Herausforderungen als andere Länder. Aber wir haben vielleicht gelernt, damit anders umzugehen. Das ist das wahre Vermächtnis unserer Ahnen: Es ist diese Fähigkeit zum ständigen Balanceakt, der aus der Schweiz eines der wohl politisch, aber auch wirtschaftlich und gesellschaftlich stabilsten Ländern gemacht hat. Und uns ganz nebenbei auch einen hervorragenden Ruf als gewiefte Diplomaten einbrachte, mit denen wir die «Guten Dienste» erfolgreich anbieten können. 

Diese Fähigkeit muss aber auch immer wieder «trainiert» werden. Das setzt Verständnis – und Akzeptanz! – unserer demokratischen Entscheidungsprozesse voraus. Leider haben Krisensituationen wie die vergangenen zwei Pandemiejahre gezeigt, wie zerbrechlich der gegenseitige Respekt sein kann. Bei den diesjährigen Tellspielen lassen die Regisseure eine moderne, multikulturelle Schulklasse, wie sie in der Schweiz heute den Normalfall darstellt, die Szenen aus heutiger Sicht kommentieren. Dabei wird eines deutlich: Die wahren Botschaften aus der Tells-Sage sind auch heute noch brandaktuell: Freiheit ist nie selbstverständlich, sie muss sich erschaffen werden. Aber Freiheit heisst auch Verantwortung übernehmen. Für sich und für die Gesellschaft, in all ihren Dimensionen. Das ist heute nicht anders als vor 700 Jahren. 

Die Tellspiele in Interlaken laufen noch bis zum 3. September. Es lohnt sich, das mal wieder anzuschauen.